Material Handwerk August 2012 D

Wo Holz, Stroh und Reet Schutz bieten

Dächer aus der Natur

Kulturlandschaften entwickelten sich im Laufe der Geschichte aus den geologischen und topographischen Gegebenheiten, aus den klimatischen Verhältnissen, den ethnischen Eigenarten der Bewohner und den historischen Zusammenhängen. Sie prägen die Baukunst, vor allem im ländlichen Raum, wo der Austausch mit anderen Kulturlandschaften nicht so stark war wie in den vom Fernhandel beeinflussten Städten.

Schrotholzbauweise auf dem Gelände einer Holzburg bei Araisi in Lettland 
© Kiesow
Schrotholzbauweise auf dem Gelände einer Holzburg bei Araisi in Lettland

Das Dachdeckungsmaterial in seiner Abhängigkeit vom Klima, den natürlichen, in der Nähe vorkommenden Materialien und den gewachsenen Traditionen charakterisiert eine Kulturlandschaft. In frühgeschichtlicher Zeit herrschte in den nördlichen Ländern außerhalb des römischen Reiches noch die Holzbauweise vor. Man verwendete damals aus der Natur direkt gewonnene Baustoffe, ohne sie wesentlich zu veredeln. Aus dieser Frühzeit sind keine Beispiele erhalten, doch hat die Archäologie uns zuverlässige Erkenntnisse verschafft.

Etwa sieben Kilometer südlich der lettischen Stadt Cesis wurden bereits 1876 beim kleinen Dorf Araisi mitten in einem See die Reste einer Holzburg aus dem 9. Jahrhundert entdeckt. Sie wurde in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sorgfältig von den Archäologen ausgegraben und rekonstruiert. Entsprechend der in slawischen Ländern noch bis in das 19. Jahrhundert verbreiteten Schrotholzbauweise mit einem Wandaufbau aus Rundhölzern sind auch die Dächer gearbeitet. Zur besseren Abdichtung der Fugen zwischen den Baumstämmen wurden Rasensoden als äußere Dachhaut eingesetzt. In den holzreichen Mittelgebirgen kann man sich dafür auch Baumrinden vorstellen.

Holzschindeldächer zweier Stadel im Freilichtmuseum von Massing/Niederbayern 
© (c)Kiesow / (c)Kiesow
Holzschindeldächer zweier Stadel im Freilichtmuseum von Massing/Niederbayern

Mit der Verfeinerung der Bearbeitungstechniken entwickelte man Holzschindeln als Dachhaut. Man gewinnt sie in der einfachsten Form durch das Spalten von Holzklötzen, wie dies bei einem Stadel im niederbayerischen Freilichtmuseum in Massing zu erkennen ist. Da das Museum bereits 1969 eröffnet wurde, sind die Holzschindeln wenige Jahre zuvor auf den umgesetzten Stadel aufgebracht worden und somit inzwischen etwa 40 Jahre alt. Die Oberfläche ist entsprechend verwittert, wodurch die Maserung besonders hervortritt, ohne dass die Haltbarkeit und Dichtigkeit der Dachhaut beeinträchtigt ist. In den bergigen Gebieten Bayerns hat man wegen der Gefahr von Dachlawinen flache Dächer, bei denen andererseits die Gefahr des Windabwurfs besteht. Deshalb beschwert man bei einem anderen Stadel im Museum Massing das mit Holzschindeln gedeckte Dach mit Steinen, die durch querliegende Rundhölzer vor dem Abrutschen gesichert sind.

Ebenfalls im Massinger Freilichtmuseum: das Taubenhaus aus Müllersberg 
© Kiesow
Ebenfalls im Massinger Freilichtmuseum: das Taubenhaus aus Müllersberg

Für einfache landwirtschaftliche Nutzbauten begnügte man sich mit den grob gespaltenen Holzschindeln. Wo es auf Schönheit ankam, wurden die gespaltenen Bretter in den Klemmbock eingespannt und mit dem Ziehmesser geglättet. Dies geschieht zur Zeit beim Ausbau der bäuerlichen Hofreite im hessischen Romrod. Tieft man zusätzlich den unteren Rand der Schindeln bogenförmig ein, entsteht ein kunstvolles Dach wie beim Taubenhaus aus Müllersberg im Massinger Museum.

Im Unterschied zum niederbayerischen Bergland mit seinen aus bis zu vier Einzelbauten bestehenden Hofanlagen mit relativ flachen Dächern sind im Schwarzwald alle Funktionen vom Wohnen über die Stallungen bis zur Scheune unter einem großen, tief herabgezogenen Dach vereinigt. Auch in diesem waldreichen Gebiet war die Dachdeckung mit Holzschindeln einst sehr verbreitet. Jetzt trifft man sie nur noch bei besonderen, unter Denkmalschutz stehenden und finanziell wirksam geförderten Gehöften an, wie zum Beispiel beim Schwarzbauernhof in Oberkatzensteig. Die relativ großen Holzschindeln sind hier sorgfältig geglättet und ungestrichen im Naturholz belassen. Letzteres ist auch dringend zu empfehlen, da beim Farbanstrich einseitige Spannungen entstehen, die zu Verformungen führen. Die Aufwölbung zum Ortgang des Dacheinschnitts ist kunstvoll durch Kochen und Biegen des Holzes geschaffen, um den Wasserabfluss in die gewünschten Bahnen zu lenken.

Schwarzbauernhof in Oberkatzensteig bei Furtwangen im Schwarzwald 
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Schwarzbauernhof in Oberkatzensteig bei Furtwangen im Schwarzwald

In Nord- und Mitteldeutschland hat Holz seine Bedeutung als Dachdeckungsmaterial nahezu vollständig verloren, nicht jedoch beim Verkleiden von Wänden als Wetterschutz, wie das Beispiel des Fachwerkhauses Schlossgasse 21 im hessischen Büdingen zeigt. Besonders im waldreichen, jedoch klimatisch rauen Vogelsberg haben noch sehr viele Fachwerkbauten an der Wetterseite eine Holzschindelverkleidung, die zugleich ein sinnvoller Wärmeschutz ist.

Auch bedeutende Sakralbauten hatten einst Dachdeckungen aus Holzschindeln, wie dies bei der Friedenskirche im schlesischen Jauer und auch bei der in Schweidnitz noch zu sehen ist. Beide sind als größte Fachwerkkirchen aus der Mitte des 17. Jahrhunderts in die UNESCO-Liste des Welterbes eingetragen worden. Sogar steile gotische Turmhelme wie der der ehemaligen Stiftskirche in Rasdorf (Kreis Fulda) sind bis heute mit Holzschindeln gedeckt.

Verkleidung mit Holzschindeln an einem Fachwerkhaus in Büdingen 
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Verkleidung mit Holzschindeln an einem Fachwerkhaus in Büdingen

Neben dem Holzschindeldach war ursprünglich das Weichdach im ländlichen Raum überall weit verbreitet. Wo es keine Seen oder Flussufer gab, hat man Stroh verwendet. Eines der letzten, bis heute mit Stroh gedeckten Bauernhäuser ist in dem 1713 erbauten Flammhof in Glottertal (Schwarzwald) erhalten. Man muss sich für das Mittelalter die Häuser in vielen Kleinstädten und Dörfern durchweg strohgedeckt vorstellen. Wegen der Brandgefahr wurde diese Dachdeckung in vielen Ortschaften verboten und durch Tonziegel ersetzt. Auch Dorfkirchen waren in vielen Fällen ursprünglich mit Stroh oder Reet gedeckt. Letzteres ist sehr viel haltbarer, nicht so leicht entzündbar, jedoch von der Nähe zu Seen oder Flussufern abhängig, wo Schilf geerntet werden kann.

Arbeiten an einem Reetdach auf dem Darß 
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Arbeiten an einem Reetdach auf dem Darß

So ist das Hauptverbreitungsgebiet identisch mit dem Vorkommen des niederdeutschen Hallenhauses, also das nördliche Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Diesem großen Gebiet entsprechend vielfältig ist auch die Bezeichnung des Materials als Reet, Reith, Ried oder Rohr. Heute spielt es nicht nur in der Denkmalpflege für Bauernhäuser eine wichtige Rolle, sondern auch bei Neubauten in den Badeorten Kampen auf Sylt oder Ahrenshoop auf dem Darß, wo es sogar in der Ortssatzung vorgeschrieben ist. Da auch sonst viele Bauherren von neuen Landhäusern die Schönheit eines Reetdaches lieben, wird genügend Schilfrohr geerntet, und es gibt auch noch die für eine qualitätvolle Eindeckung ausgebildeten Dachdecker. Denn von der Sorgfalt ihrer Arbeit hängt die Dauerhaftigkeit dieser ebenso schönen wie kostspieligen Dachdeckung ab, für die leider auch erhöhte Beiträge zur Feuerversicherung zu zahlen sind.

Der Wehrt'sche Hof in Borstel 
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Der Wehrt'sche Hof in Borstel

Besonders eindrucksvoll ist die Reetdeckung bei den niedersächsischen Hallenhäusern wie zum Beispiel dem bald nach 1632 erbauten Wehrt'schen Hof in Borstel (Landkreis Stade) mit seinem tief über die seitlichen Kübbungen heruntergezogenen Dach, einer Bauweise, die den Stürmen der Küstenregionen am besten trotzen kann. Wie im Beitrag der April-Ausgabe 2008 dargestellt, gibt es Reetdeckungen nicht nur bei Häusern, sondern auch bei Sakralbauten wie der Dorfkirche von Alt Placht und sogar bei Windmühlen.

Professor Dr. Dr.-Ing. E. h. Gottfried Kiesow †


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